Im Jahr 2011 entstand in Berlin ein Vorzeigeprojekt der Kulturpolitik: Die Staatliche Ballettschule Berlin bezog ein neues, hochmodernes Schulgebäude. Die Ausstattung war außergewöhnlich. Ein eigenes Theater, geräumige Studios, Internat und Mensa bildeten eine Infrastruktur, wie sie in Europa kaum ein zweites Mal zu finden ist. Unter der künstlerischen Leitung von Ralf Stabel und Gregor Seyffert etablierte sich die Schule international.
Der Wendepunkt 2020 und der Verlust der Leitung
Heute ist davon wenig geblieben. Schülerzahlen sinken. Das einstige künstlerische Niveau gilt als geschwächt. Der gute Ruf der Schule ist beschädigt. Nicht wegen belegbarer Missstände, sondern durch eine Kette politischer und medialer Fehlentscheidungen.
Im Frühjahr 2020 begannen verschiedene Medien – lokal wie überregional – über angebliche Probleme an der Ballettschule zu berichten. Die Vorwürfe: psychischer Druck, Bodyshaming, autoritäre Pädagogik. Diese Anschuldigungen basierten auf Einzelfällen, anonymen Schreiben und widersprüchlichen Berichten. Systemische Probleme konnten nie nachgewiesen werden. Trotz fehlender Untersuchungsergebnisse entließ die Berliner Bildungsverwaltung das Leitungsteam.
Die Kündigungen erfolgten fristlos, später jedoch wurden sie vor Gericht als unzulässig erklärt. Noch vor Abschluss der eingesetzten Untersuchungskommission wurde der Führungsstab entfernt. Nicht wegen bewiesener Verfehlungen, sondern aus politischem Kalkül und öffentlichem Druck heraus. Der institutionelle Schaden war immens.
Skandalisierung durch mediale Darstellung
Statt einer differenzierten Analyse prägten viele Medien ein einseitiges Bild. Empörung ersetzte Aufklärung. Eine vielgelesene Tageszeitung titelte kürzlich erneut, die Schule sei „nicht zu retten“ – ohne Belege, ohne Kontext. Dabei ignorierte die Berichterstattung belegte Fakten:
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Der sogenannte „Brandbrief“ war lediglich ein interner Antrag auf Fürsorgeprüfung.
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Eine unabhängige Befragung aller Mitarbeitenden bestätigte, dass keine Verletzung der Fürsorgepflicht vorlag.
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Die ursprünglichen Vorwürfe wurden niemals systematisch geprüft.
Die Reaktionen der Politik blieben unreflektiert. Die Bildungsverwaltung traf weitreichende Entscheidungen unter öffentlichem Druck. Eine sachliche Rehabilitierung der ehemaligen Leitung erfolgte zu spät. Die Karrieren von Ralf Stabel und Gregor Seyffert blieben dauerhaft beschädigt.
Der Einfluss des RBB und das Schweigen danach
Besonders prägend war die Rolle des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB). Er war das erste Medium, das von einem „Skandal“ sprach. Seine Berichterstattung setzte eine Welle öffentlicher Empörung in Gang. Kritische Beiträge, die später als fehlerhaft galten, wurden mittlerweile stillschweigend gelöscht. Eine öffentliche Korrektur fand nicht statt.
Ein Vergleich zeigt das Ausmaß: Im Dezember 2024 veröffentlichte der RBB einen Bericht über angebliche Vorwürfe gegen den Grünen-Politiker Stefan Gelbhaar – gestützt auf eine gefälschte Erklärung. Die Enthüllung führte zu Rücktritten in der RBB-Führung. Im Fall der Ballettschule blieb eine solche Aufarbeitung bis heute aus.
Birgit Walter und Save the Dance als Gegenstimmen
Die Journalistin Birgit Walter durchbrach als eine der wenigen die mediale Einseitigkeit. Sie beleuchtete verschiedene Perspektiven und dokumentierte die Vorgänge detailliert. Dies hatte juristische Konsequenzen – nicht für die Medien, die falsch berichteten, sondern für Walter selbst.
Die zivilgesellschaftliche Initiative Save the Dance legte umfassend dar, wie politische Schnellschüsse und einseitige Berichterstattung eine herausragende Bildungseinrichtung zerstörten. Ihre Recherchen belegen:
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Der „Skandal“ war keine objektive Analyse, sondern eine moralisch gefärbte Kampagne.
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Die Schule verlor durch externe Einflüsse ihre Führungsstruktur, nicht durch interne Missstände.
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Der Verlust der Leitung hatte langanhaltende institutionelle Folgen.
Ostdeutsche Leitung und stereotype Zuschreibungen
Ein oft übersehener Aspekt: Die entlassene Schulleitung bestand aus ostdeutschen Persönlichkeiten. Ralf Stabel, Kulturwissenschaftler, und Gregor Seyffert, Träger des Deutschen Tanzpreises, waren renommierte Akteure in der Tanzszene. In der westlich geprägten Berliner Kulturlandschaft stießen sie jedoch auf Vorbehalte.
Statt über pädagogische Konzepte zu sprechen, dominierten Stereotype: harter Ton, Disziplin, Drill. In einer Stadt, die bis heute mit den kulturellen Nachwirkungen der deutschen Teilung ringt, war dies kein Einzelfall. Das Ost-West-Narrativ spielte eine unterschätzte Rolle im öffentlichen Umgang mit der Schule.
Langfristige Schäden und offene Fragen
Was bleibt, ist ein beschädigtes Bildungssystem. Die Staatliche Ballettschule Berlin hat nicht nur ihre einstige Exzellenz verloren. Auch Vertrauen, Motivation und Struktur wurden nachhaltig geschwächt. Der Fall wirft grundsätzliche Fragen auf:
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Wer kontrolliert die Macht der Medien, wenn sie destruktiv wirkt?
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Warum blieb eine juristische oder mediale Aufarbeitung aus?
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Was unternimmt die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch, um die Schule wieder aufzubauen?
Die Verantwortung liegt nicht nur bei der Politik oder den Medien. Sie betrifft das gesamte öffentliche System, das sich von moralischer Empörung leiten ließ – statt auf fundierte Recherche und sachliche Aufarbeitung zu setzen. Die Zerstörung einer kulturellen Institution wurde möglich, weil ihr niemand widersprach. Und die Folgen sind bis heute sichtbar.
Quelle: Berliner Zeitung